Individualität – und wie wir sie verloren haben

Was „normal sein“ bedeutet, hatte ich ja im letzten Beitrag mal etwas auseinandergepflückt. Auf den ersten Blick mag man glauben, eine Norm sei notwendig, um das Zusammenleben zu regeln und Störungen einer Gesellschaft zu vermeiden. Das ist sicher auch richtig, denn je normierter wir leben, umso weniger Konfliktpotential ist vorhanden. Vordergründig zumindest. Allerdings ist Normalität für jede Gesellschaft etwas völlig anderes. Wenn Blogger in anderen Ländern ausgepeitscht werden, dass mag das für die dortige Gesellschaft normal sein. Für andere Gesellschaften wiederum nicht. Es hängt immer vom allgemeinen Konsens ab, was als normal angesehen wird.

Normalität hat noch einen anderen Effekt: Eine normierte Gesellschaft ist leichter zu verwalten und birgt für die herrschende Klasse umso weniger Gefahren, je mehr die Bürger an der Norm festhalten. Da verwundert es nicht wirklich, wenn immer größere Gesellschaften normiert werden. Wir erleben das ja gerade bei allen EU Mitgliedern, die sich an die von der EU vorgegebenen Normen zu halten haben. Das ist aber noch nicht das Ende: TTIP, CETA und wie die geplanten Geheimabkommen zwischen den Staaten alle heißen mögen, haben exakt das gleiche Ziel: Eine normierte Gesellschaft, die nach gleichen Regeln funktioniert – und so nebenbei auch das Einkommen der herrschenden Klasse sicherstellt. Genau betrachtet ist eine derartige Gesellschaft nichts anderes als eine moderne Sklaverei. Nur dass die Ketten aus Normen und Geld bestehen und der Traum von Freiheit ein Traum von mehr Geld und Besitz ist.

Eine solche normierte Gesellschaft hat aber einen entscheidenden Nachteil: Die Normierung tötet jede Form von Kreativität und Individualität. Wir leben nicht mehr, wir funktionieren nur noch. Kreativität und Indidualität werden nicht mehr selbst gelebt, sondern wir lassen Firmen für uns kreativ sein, um eine Scheinindividualität zu erreichen. Firmen erzählen uns, was In und Out ist, was wir anzuziehen haben, was wir kaufen sollen. Und sie werden nicht müde, uns immer neue Dinge anzubieten, mit denen wir uns individualisieren können. Diese Individualisierung bleibt zwangsläufig immer nur im Rahmen der Norm. Fast-Food-Individualismus statt Kreativität. Das ist wie bei McDonalds essen: Die Individualität ergibt sich aus der Wahl der Burger-Variante, aber was nicht angeboten ist, gibt es nicht. Echte Individualität ist wie Vollwertkost: Frisch, selbst zubereitet, kreativ, ideenreich, gesund. Der Konsum von Fast-Food Individualität führt genauso wie der Konsum von Fast-Food, mit der Zeit zu Mangelkrankheiten. Zuwenig eigene Kreativität läßt unsere Seele verkümmern und führt zu sinnlosen Wettbewerben um Karriere, Geld und Besitztum, immer neu angestachelt durch die Medien. Wir werden zu Mitmach-Zombies, seelenlosen Wesen, denen alles außer dem ständigen Hunger genommen wurde.

Normal is so fucking boring

Ich greife das letzte Thema noch einmal auf – das, in dem es darum ging, dass viele den Sinn des Lebens darin sehen, ihre Verhältnisse zu ordnen und zu stabilisieren und damit praktisch seelisch zu verkümmern. Man findet damit zwar seinen kuscheligen Platz in der Gesellschaft und ihrer Normen und Werte und den möchte man natürlich beibehalten. Aber leider führt genau das auch dazu, dass man immer mehr nur den eigenen Standpunkt, das eigene Weltbild, die eigene Verhaltensweise für richtig hält. Denn das alles zu hinterfragen, quasi an den Grundfesten der eigenen Existenz zu rütteln, an dem, was wir als normal ansehen, wäre unangenehm und potentiell gefährlich.

Ich habe mich oft gefragt, weshalb ältere Menschen oft so starrsinnig und abgestumpft sind und ich denke, das ist eine durchaus brauchbare Erklärung dafür. Alles, was dem Status Quo gefährlich werden könnte, führt automatisch zu einer kognitiven Dissonanz: Man merkt, oft nicht einmal bewußt, dass da etwas ist, das am eigenen Weltbild rütteln könnte und reflexartig schaltet man um auf Verteidigung. Man hinterfragt gar nicht, warum und was man da überhaupt verteidigt, man macht es einfach. Instinktiv. Und ehe man sich versieht, lehnt man auf einem Kissen auf der Fensterbank und keift die Nachbarskinder an. ;)

Diese wohlige Kuhle in der Couch der Gesellschaft, die wir uns über Jahre erarbeiten, ist das, was wir Normalität nennen. Wir haben uns arrangiert, Konfliktpotential wurde eliminiert oder unterdrückt, wir haben unseren Platz gefunden. Wir sind normal.

Aber was bedeutet das – normal zu sein? Es bedeutet vor allem eins: Wir haben unsere eigene Kreativität, unser spielerisches Ausprobieren, unsere angeborene Neugierde auf dem Altar der Anpassung geopfert. Wir haben haben aufgegeben, uns eingeschränkt und die Flamme der Neugier und Lebenslust unter einem Berg von Regeln und Konformitäten erstickt. Wir haben unsere zentrale Lebensaufgabe – das Leben in all seinen Möglichkeiten zu erfahren – selbst begraben. Und weil wir das unbewußt sehr genau wissen und uns tief im Unterbewußtsein dafür hassen, bewundern wir gleichzeitig die schillernden Paradiesvögel, die uns das Fernsehen zeigt. Überzogene Imitate dessen, was unser Leben eigentlich sein könnte und sollte. Die Bewunderung endet allerdings immer dann, wenn das kleine noch verbliebene Flämmchen in uns den mahnenden Finger hebt und leise fragt: „Warum machst DU das eigentlich nicht?“  Dann hassen wir sie dafür, das zu sein, was wir uns verboten haben.

Dazu passt wunderbar ein Satz von Maya Angelou:

If you are always

trying to be normal,

you will never know

how amazing you can be.

Der Sinn des Lebens

Ist 42, jaja, ich weiß… und wer da gerade nicht mitkommt, möge bei Douglas Adams in „per Anhalter durch die Galaxis“ oder bei Wikipedia nachlesen ;)

Nein, die Frage ist ernst gemeint – was ist denn nun der Sinn des Lebens? Laßt mich dazu mal ein wenig ausholen…

Wenn ich mich so umschaue, sehe ich grob zwei Fraktionen von Menschen mit unterschiedlichen Zielen: Die einen haben das Ziel, möglichst alles abzusichern und zu stabilisieren. Partner suchen, heiraten, Lebensversicherung, Bausparvertrag, Hausbau, zwei Kinder, Rente, fertig. Alles schön geplant, alles vorbereitet, keine Unsicherheiten. Das erinnert mich immer sehr an Dieter Nuhr, der in seinem Programm von Meereslebewesen erzählt, die ihr Gehirn nur dazu benutzen, einen Platz auf einer Koralle zu finden. Dort angekommen setzen sie sich fest und beginnen, ihr nun nicht mehr benötigtes Gehirn zu verdauen. Bei vielen Zeitgenossen würde ich sagen: Paßt!

Aber ist das der Sinn des Lebens? Für mich zumindest nicht. OK, größtenteils nicht. So ein klein wenig Planung und Sicherheit finde ich gar nicht verkehrt, sonst kann das mit dem Leben doch schneller vorbei sein, als man denkt. Trotzdem kann ich das nicht nachvollziehen, bei solchen Leuten scheint mir der seelische Tod schon sehr, sehr früh einzusetzen. Erst stirbt die Seele, dann stirbt der Mensch könnte man sagen. Was hat man als Vertreter dieser Fraktion denn noch nachdem das Nest fertiggestellt ist? Das Leben besteht dann nur noch aus einer möglichst an die Norm angepaßten Lebensweise und dem Erhalt oder der Verbesserung des Status Quo. Bloß nicht mehr selbst denken, bloß nicht die Norm in Frage stellen, bloß nicht anders sein. Diese Menschen leben nicht mehr, sie sind eigentlich schon tot. Mitmach-Zombies…

Was mich zu der anderen Fraktion bringt. Die hat Hunter S. Thompson mal so wunderschön beschrieben, dass ich ihn nur zitieren kann:

“Life should not be a journey to the grave with the intention of arriving safely in a pretty and well preserved body, but rather to skid in broadside in a cloud of smoke, thoroughly used up, totally worn out, and loudly proclaiming „Wow! What a Ride!”

Und das könnte ich mir durchaus auf die Fahnen schreiben. Wenn auch nicht ohne Einschränkungen, denn ich würde das Erlebnis dann doch gerne recht lange ausdehnen. Sonst würde ich mich wohl nicht vollwertig ernähren, sondern mir jeden beworbenen Scheiß ohne nachzudenken reinziehen. Das Leben auskosten bedeutet eben nicht, blind alles zu tun, sondern zu überlegen, was wirklich nützt und was schadet. Sonst ist das mit dem Auskosten recht schnell vorbei. Es sei denn, man versteht unter „das Leben auskosten“ auch Dinge wie Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall… Da das aber meiner Meinung nach wenig Spaß macht, beschränke ich mich dann doch lieber auf Dinge, die nicht gleich das vorzeitige Ende dieses lustigen Abenteuers bedeuten, das wir Leben nennen.

Das alles bedeutet nun nicht, dass ich alles irgendwie in meinem Leben unterbringen muss. Ein Schmetterling hat auch nicht das Ziel, jede einzelne Blüte einmal besucht zu haben. Nein, ich lasse mich gerne vom Wind treiben und so lande ich mal bei dieser Blüte, mal bei jener. Wo es mir gefällt, bleibe ich länger, ansonsten bin ich schnell auch wieder weg. Meine Hobbies und Interessen wechseln so schnell wie die Blumen beim Schmetterling, aber an Einigen bin ich hängengeblieben und sie wurden zu größeren Lebensinhalten. Von einigen werde ich hier noch berichten.

Und wo ist nun der Sinn des Lebens? Wenn schon nicht 42 – was dann?

Die Antwort ist erstaunlich einfach: Der Sinn des Lebens ist es, es zu leben. :) Es mit allen Sinnen zu entdecken und zu erfahren und das möglichst intensiv und lange.
Unser Leben ist im Grunde ein Besuch auf einem Abenteuerspielplatz: Man kann alles sein und alles werden, jedes Abenteuer bestehen, das man will, jede Erfahrung machen. Und natürlich holt man sich dabei auch mal die eine oder andere Schramme, das gehört eben dazu. Und irgendwann ist der Tag zu Ende, wir gehen nach Hause zu unserer Familie und überlegen uns, was wir am nächsten Tag sein wollen…

Warum ich keine Leserbriefe schreibe

Ich schreibe normalerweise nie Leserbriefe.

Leserbriefe sind im Zeitalter der elektronischen Kommunikation eigentlich überflüssig geworden, das Internet bietet über Facebook und Co einen viel direkteren und schnelleren Kontakt. Dennoch sind Leserbriefe immer noch ein gerne gesehener Teil der Printmedien. Wenn man bedenkt, dass man bei Printmedien bis zur nächsten Ausgabe warten muss, um seinen Leserbrief – vielleicht – veröffentlich zu sehen, sollte man meinen, dass sowieso niemand Leserbriefe schreibt. Aber hier spielt natürlich der Drang nach Anerkennung eine wesentliche Rolle: Wer will nicht einmal seinen Namen, vielleicht sogar sein Bild, in einem gedruckten Werk sehen. Ein kleines Stück Berühmtheit…

Der Zeitung kann es recht sein – Leserbriefe machen zwar Arbeit, aber sie machen das Medium auch interessanter für andere Leser. Also eine Win-Win Situation?

Beileibe nicht.

Ganz allgemein ist der Sinn von Leserbriefen, ein Feedback der Leserschaft zu bekommen und den Lesern gleichzeitig ein – natürlich gefiltertes – Stimmungsbild zurückzuspiegeln und das Produkt dadurch interessanter zu machen. Man kann Leserbriefe durch gezielte Selektion wunderbar zur Manipulation der Leserschaft verwenden, indem man nur diejenigen Zuschriften veröffentlicht, die den eigenen Zielen nützen und diejenigen unterdrückt, die den eigenen Zielen schaden. In der Regel wird man natürlich auch einen gewissen Teil kritischer Zuschriften veröffentlichen, natürlich nur, wenn die Kritik entkräftet werden kann oder es sich nur um leichte Kritik an unwesentlichen Dingen handelt. Offensichtliche Fehler wird man natürlich zugeben müssen, aber da veröffentlich man dann lieber an anderer Stelle eine Korrektur.

Leserbriefe sind vermutlich sogar effizienter als eigene Artikel, weil der Leser sich mit der Masse der anderen Lesern eher identifiziert als mit der meist anonymen Redaktion und die Veröffentlichung leicht kritischer Leserbriefe vermittelt den Anschein von Offenheit, der oft gar nicht existiert. Dem Leser wird so der Anschein vermittelt, er könne Einfluß auf die Ansichten und Themenwahl der Redaktion nehmen.

Für den Herausgeber haben Leserbriefe aber noch einen anderen Vorteil: Er weiß nach kurzer  Zeit – je nach Schreibfreudigkeit der Leser – recht genau, wie der jeweilige Schreiber einzuschätzen ist und bekommt so einen mehr oder weniger repräsentativen Überblick über Kritiker und Förderer und deren Anteil in der Leserschaft. In der Regel wird bei Leserbriefen die Angabe von Name, Anschrift und oft auch Telefonnummer gefordert. Man liefert also gratis seine Adressdaten (falls man nicht sowieso Abonnent ist) und mit dem Inhalt des Leserbriefs auch gleich noch ein Selbstportrait. Mit jedem Leserbrief erfährt der Herausgeber mehr über den Schreiber. Eine solche Datenerfassung und Auswertung kostet zwar etwas Arbeit, lohnt sich aber, denn der so entstehende Datenbestand ist ideal dazu geeignet, gute Förderer oder harte Kritiker zu identifizieren und dann gezielt zu bearbeiten. Adressen und Telefonnummern hat man ja.  Die dazu nötige Datenspeicherung und -Verarbeitung ist nach BDSG natürlich illegal und strafbar, solange der Autor nicht einer entsprechenden Erklärung zugestimmt hat. Solche Erklärungen hat man aber häufig unwissentlich im Kleingedruckten mit abgegeben und damit hat der Herausgeber theoretisch die Möglichkeit, eine ganze Datenbank mit Persönlichkeitsprofilen aufzubauen. Unabhängig von einer solchen Erklärung, kann man nach BDSG jederzeit Auskunft über die gespeicherten Daten und eine bestätigte Datenlöschung fordern.

Natürlich besteht die Möglichkeit der Datensammlung und Profilbildung auch im Internet, allerdings kann hier nur schlecht manipuliert werden. „Leserbriefe“, sprich Einträge auf Pinwänden, in Foren, etc. sind sofort öffentlich, können nicht unterdrückt werden und Zensur fällt sofort auf. Reaktionen auf Beiträge sind sofort für alle sichtbar und selbst der Versuch, unter Umgehung des Mediums Kritiker direkt zum Verstummen zu bringen, birgt die Gefahr, dass dieser Versuch öffentlich gemacht wird.

Hallo Welt!?

„Hallo Welt!“? So beginnt der mitgelieferte Beispielartikel von WordPress, das hier im Hintergrund seinen Dienst verrichtet. „Hallo Welt!“ Eigentlich ganz passend. Es hat ja Tradition, dass man bei einer neuen Programmiersprache erstmal ein Programm schreibt, das „Hallo Welt!“ ausgibt. Als erstes Lebenszeichen, sozusagen als erster kräftiger Schrei des Neugeborenen, um mal auf sich aufmerksam zu machen. Also lasse ich das mal stehen, es paßt ja ganz schön.

Tja, liebe Welt – was könnt ihr von diesem Blog erwarten?  Ich merke gerade, daß es jetzt ziemlich dämlich war, mir selbst diese Frage zu stellen, denn das weiss ich selbst noch nicht. Mal sehen, wie sich das entwickelt. Aber das Blog hat ja nicht umsonst den Titel voll.wert.leben. Lassen wir uns doch mal überraschen, welch faszinierenden Assoziationen uns das noch liefern wird. Eine Warnung sollte ich dabei aber vielleicht schon mal loswerden: Wer Mainstream lesen will, ist hier falsch. Bitte weitergehen, es gibt hier nix zu sehen… Ich mag keinen Mainstream. Mainstream zu sein, bedeutet nicht leben, sondern gelebt zu werden – es ist Anpassung statt Selbstverwirklichung. Mainstream zu sein, bedeutet, am Ende seines Lebens nicht sagen zu können „Mann, Leute, was ein geiler Trip“, sondern eher „Ja, äh, war ganz ok, muss ich jetzt aber nicht nochmal…“. Und das wäre doch schade, oder?